Sonntag, 30. November 2014

Megan Catherine Lee

„Das ist kompliziert….“

„Das ist kompliziert", sage ich, während meine Augen auf den Boden vor mir gerichtet sind.Wurzeln schlängeln sich über den Weg und bieten Stolpermöglichkeiten; die Erde ist noch feucht vom Regen der letzten Tage, sie gibt unter meinem Gewicht leicht nach; die Luft ist diesig und schwül. 
„Wir wissen doch beide, dass das eine feige Ausrede ist." Chloe läuft hinter mir, ihr Atem geht schneller als meiner, ihre Schritte sind lauter, unbeholfener. Für gewöhnlich schließt sie sich meinen morgendlichen Trainingseinheiten nicht an, doch da ihr Sportlehrer sie durchfallen lässt, wenn sie nicht besser wird, hat sie keine andere Möglichkeit als diese. Ich laufe jeden Tag. Laufen tut gut, es lenkt mich ab und hält mich am Leben.
„Es ist keine Ausrede. Was soll ich denn da?" „Wie wäre es mit tanzen, trinken und einfach Spaß haben?“ Sie klingt bereits genervt. Diese Party ist seit einer Woche unser Diskussionsthema. Chloe geht gerne feiern und trinkt gerne zu viel Alkohol. Wenn ich ehrlich bin, dann war ich ihr bis vor gar nicht allzu langer Zeit sehr ähnlich. Doch seit mein zwei Jahre jüngerer Bruder Ben mit seinen sogenanten Freunden im See nahe unseres Wohnortes betrunken schwimmen gegangen und beinahe ertrunken ist, meide ich sowohl das Wasser, als auch den Alkohol oder betrunkene Menschen. Das Ganze ist heute ziemlich genau eine Woche her. Und seit genau dieser Woche liegt Ben im örtlichen Krankenhaus und alle warten darauf, dass er wieder zu Bewusstsein kommt.Meine Eltern wachen beinahe jede Minute über ihn, aber es sieht nicht gut aus. Wenn er stirbt, werden sie mir die Schuld geben. Sie werden -
„He, Erde an Megan?“, schnauft Chloe. Ich bleibe stehen und stelle fest, dass sie bereits einige Meter hinter mir Halt gemacht hat und sich nun an den Stamm einer alten Eiche lehnt. Sie macht einen Schmollmund und sieht mich aus großen Augen an. „Bitte, Megan.“ 
Ich müsste nein sagen, das weiß ich. Ein Nein wäre vernünftig, aber es würde auch bedeuten, dass ich einen weiteren Abend entweder alleine Zuhause oder mit meinen Eltern, die mich kaum eines Blickes würdigen, am Bett meines Bruders sitzen müsste. Das Wort geht mir leichter über die Lippen, als ich gedacht hätte. "Okay."

Der Mann, Dr. Kinsley, macht sich einige Notizen. "Sie lassen den Anfang bewusst aus. Wie war das mit ihrem Bruder? Wie konnte es dazu kommen?" Seine Fragen machen mich nervös, ich rutsche auf dem weichen Sitzpolster ein wenig von links nach rechts. Ein Blick zur Uhr zeigt, dass kaum Zeit vergangen ist, seit ich den Raum betreten habe. Meine Augen verfolgen den Sekundenzeiger, wandern dann über die blaue Wand, hinunter zu dem roten Fleck. 
"Miss Lee, geben Sie sich die Schuld an dem Unfall Ihres Bruders?" Das erste mal schaue ich ihn an. Die braunen Haare, das runde Gesicht, die grünen Augen. Schlanke Hände, lange Finger. Ein Füller in seiner Hand, mit dem er seine Notizen macht. Er hält ihn mit der linken Hand. Ein Linkshänder. Ben war Linkshänder. 
"Antworten Sie mir bitte." Meine Finger krallen sich in meine Oberschenkel, der leichte Schmerz fühlt sich gut an.
"Meine Eltern gaben mir die Schuld."

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